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Interviews, vidéos et articles invitésPublié le 30 juin 2025

«Das Bewusstsein, dass Freiheit und Sicherheit nicht gratis sind, ist nicht unbedingt vorhanden»

Im Interview mit «Der Bund» zeichnet Staatssekretär Markus Mäder ein Bild aktueller Bedrohnungen und zukünftiger sicherheitspolitischer Herausforderungen.

07.06.2025 | Interview: Der Bund, Larissa Rhyn

Markus Mäder ist der Chef der Schweizer Sicherheitspolitik. Er sagt, weshalb er damit rechnet, dass die USA unter Trump an Europas Seite bleiben – und wovor er persönlich Angst hat.

Die Worte des Verteidigungsministers sind alarmierend. Kürzlich sagte Martin Pfister, die Schweiz müsse sich auf das schlimmste Szenario vorbereiten: einen baldigen Krieg. Die Einschätzungen zur Sicherheitslage liefert ihm Markus Mäder, der erste Schweizer Staatssekretär für Sicherheitspolitik. Im Interview beantwortet er Fragen, die in der aktuellen Weltlage viele umtreiben: Wird Donald Trump die Nato im Stich lassen? Welches Land könnte Wladimir Putin als nächstes angreifen? Und woher droht der Schweiz die grösste Gefahr?

Herr Mäder, wenn Sie sich auf eine Prozentzahl festlegen müssten: Wie wahrscheinlich ist es, dass Russland in den nächsten fünf Jahren ein weiteres europäisches Land angreift?

Markus Mäder: Da fragen Sie einen Geisteswissenschaftler, und ich bin ganz schlecht mit Zahlen. Vielleicht kann ich stattdessen etwas aufzeichnen: Um die Bedrohung zu beurteilen, gibt es eine Formel, Absicht plus Potenzial plus Gelegenheit. Zuerst beurteilen Sie die Absicht eines potenziellen Aggressors, dann seine Fähigkeiten und die Aufrüstung, und am Ende analysieren Sie die Gelegenheit, die er erkennen könnte. In Europa werden vor allem zwei Dinge beurteilt, um die russische Bedrohung einzuschätzen: Putins Absicht und sein Potenzial. Das führt zum Schluss, dass es gegen Ende dieses Jahrzehnts sehr gefährlich werden könnte. Aber das ist eine sehr statische Einschätzung. Deshalb sollte man auch die Gelegenheit anschauen.

Und zu welchem Schluss kommen Sie dann?

Wenn Europa seine Hausaufgaben macht, ist es weniger wahrscheinlich, dass Putin eine gute Gelegenheit für einen Angriff sieht. Die Bedrohung ist also sehr dynamisch und hängt auch davon ab, wie stark Europa und die Nato ihre Verteidigungsfähigkeit ausbauen, um Russland von einem Angriff abzuhalten. Deshalb will ich keine Prozentzahlen und auch keine Jahreszahl nennen. Ich sage einfach: Die Lage ist gefährlicher geworden.

Der neue Verteidigungsminister Martin Pfister sagte kürzlich, die Schweiz müsse sich auf einen baldigen Krieg vorbereiten. Die Informationen zur Sicherheitslage liefern Sie ihm. Da kommen Sie also zu einer drastischen Einschätzung …

… die Einschätzungen liefern wir nicht allein. Da gehört auch die Beurteilung vom Nachrichtendienst des Bundes sowie von anderen Quellen und Partnern dazu. Aber auch ich sage: Es ist möglich, dass die Auseinandersetzung weiter eskaliert. Wir wissen nicht, wie es in der Ukraine weitergeht. Je nach Ergebnis könnte sich Putin ermutigt fühlen, eine weitere Konfrontation zu suchen.

Bei einem militärischen Sieg über die Ukraine wäre der Fall klar, aber welche anderen Ergebnisse könnten Putin ermutigen?

Wenn er zum Schluss kommt: Es hat sich gelohnt, Gewalt einzusetzen, um Grenzen zu verschieben, um seine Einflusszone auf andere Länder auszudehnen. Dann könnte er das Gleiche in anderen Regionen Europas versuchen.

Sprich: Putin darf bei Verhandlungen keine Gebiete gewinnen?

Seine Kosten-Nutzen-Analyse darf jedenfalls nicht gut ausfallen.

[...] Sorgen macht mir die Gesamtsituation aus sicherheitspolitischer Optik. Die internationale Entwicklung, die darauf hindeutet, dass wir nach einer wirklich sehr guten, stabilen und sicheren Phase in eine neue Epoche hineinkommen, die sehr viel unberechenbarer und unsicherer ist.

Ist ein Krieg aktuell die grösste Bedrohung für die Sicherheit der Schweiz?

Die Bedrohung ist vielschichtig. Einerseits ist da die geopolitische Lage, mit Rivalitäten zwischen den zwei Supermächten USA und China. Das hat Auswirkungen auf die ganze Welt und auf viele Politik- und Lebensbereiche. In Europa ist der russische Angriffskrieg gegen ein souveränes Nachbarland schwerwiegend. Das sind die zwei Megatrends für unsere Sicherheit. Dabei gibt es eine Grauzone, bei der man eben nicht so ganz klar sieht: Ist das Frieden oder Krieg? Da reden wir von Desinformation, aggressiverer Spionage, vermehrten Cyberangriffen und Sabotage, etwa gegen kritische Infrastrukturen. Davon ist teilweise auch die Schweiz betroffen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja, uns betrifft derzeit vor allem Desinformation. Wir stellen auch fest, dass die Spionageaktivitäten in der Schweiz zunehmen. Und man versucht, Sanktionen zu umgehen. Die Schweiz und unsere Wirtschaft sind Ziele, zum Beispiel von Technologiespionage.

Was kann eine liberale Demokratie überhaupt gegen Desinformation tun – ohne die Meinungsfreiheit stark einzuschränken?

Meinungsäusserungsfreiheit ist eines der höchsten Güter in der Schweiz. Die Herausforderung ist zu erkennen, wenn ein bösartiger Akteur versucht, diese Freiheiten zu missbrauchen und staatlich gelenkt Desinformation zu streuen. Wir können dagegen sensibilisieren. Der Staat sollte auch ein Auge haben auf die Medienkompetenz der Leute. Das fängt in den Schulen an. Der Mensch ist heute einer permanenten Informationsüberflutung ausgesetzt – und dazu gehören auch viele absichtliche Falschmeldungen.

Finnland, Schweden oder die baltischen Staaten warnen schon länger vor einem Angriff Russlands auf ein weiteres europäisches Land. Sind wir in der Schweiz zu gutgläubig?

In Staaten wie Finnland und Schweden haben die Geschichte und die Geografie mit dem Nachbarn Russland eine andere Wirkung. Im Vergleich dazu leben wir in einem vorteilhaften Umfeld. Und wenn man als Nation mehrere Jahrzehnte in einer sehr komfortablen Lage gelebt hat, gibt es nicht so schnell einen Wechsel im Mindset. Das Bewusstsein, dass Freiheit und Sicherheit nicht gratis sind, ist nicht unbedingt vorhanden. Aber ich glaube, wir sind auf dem Weg dahin.

Nahe der finnischen und der estnischen Grenze baut Russland gerade mehrere Militärbasen aus. Kann man daraus schliessen, dass diese beiden Länder besonders bedroht sind?

Russland baut seine Streitkräfte und deren Ausrüstung massiv aus. Und zwar deutlich stärker, als es wegen des Kriegs in der Ukraine nötig wäre. Ein guter Teil der Wirtschaft ist auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Von Experten aus den nordischen Staaten höre ich allerdings, dass die Bautätigkeiten in der Nähe von Finnland nicht derart sind, dass daran die Vorbereitung eines bevorstehenden Angriffs erkennbar wäre.

Was würde ein Angriff auf einen Nato-Staat für die Sicherheit der Schweiz bedeuten?

Es würden wohl noch mehr Cyberattacken und andere hybride Angriffe stattfinden und es würde noch schwieriger werden für uns, Rüstungsmaterial zu beschaffen im Ausland. Nato-Staaten würden anders priorisieren. Dabei ist das heute schon sehr anspruchsvoll, weil der Rüstungsmarkt sehr angespannt ist.

[Ich bin] überzeugt, dass es für die USA wichtig bleibt, Europa als verlässlichen Partner zu haben. Europa – und damit auch die Schweiz – muss mehr schultern für die regionale Sicherheit. [...] Es gab bisher keine Entscheide, wonach die USA ihre militärische Präsenz in Europa reduzieren würden.

Sie haben bei der Bedrohung auch die geopolitische Lage erwähnt. Was bedeutet die neue Sicherheitspolitik der Trump-Regierung für die Schweiz?

Grundsätzlich haben wir eine gut etablierte sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit den USA und ein starkes Interesse, diese weiterzuführen. Und wir gehen davon aus, dass das auch so bleiben wird. Ebenso haben wir ein Interesse, die sicherheitspolitische Kooperation mit Europa zu vertiefen. Die US-Neuausrichtung hat Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis. In Europa spürt man mehr Ungewissheit und Unberechenbarkeit, insbesondere im Hinblick auf das künftige Engagement der USA in Europa. Auf der anderen Seite muss man auch unterscheiden: Was ist allenfalls Rhetorik? Und was sind die langfristigen strategischen Interessen der USA? Diese werden zu einem grossen Teil mit Europa verbunden bleiben.

Was macht Sie da so sicher? Es gibt auch Stimmen in den USA, die sagen, man müsse sich in der Verteidigung komplett auf China konzentrieren.

Es gab diese Stimmen auch früher. Die jetzige Regierung sagt es prägnanter. Trotzdem bin ich aufgrund des amerikanischen strategischen Denkens in den letzten Jahrzehnten überzeugt, dass es für die USA wichtig bleibt, Europa als verlässlichen Partner zu haben. Europa – und damit auch die Schweiz – muss mehr schultern für die regionale Sicherheit. Das heisst aber nicht, dass man die gesamte Kooperation infrage stellt. Es gab bisher keine Entscheide, wonach die USA ihre militärische Präsenz in Europa reduzieren würden. Die gemeinsamen Übungen der Nato in Europa, die lange im Voraus vorbereitet werden, finden statt. Und die gemeinsamen Verteidigungsplanungen laufen weiterhin.

Sie rechnen nicht damit, dass die USA unter Donald Trump die Nato verlassen werden?

Ich rechne insofern nicht damit, als es dem langfristigen strategischen Interesse der USA widersprechen würde.

Sollte die Schweiz überhaupt noch eine engere Kooperation mit der Nato anstreben – oder sich besser auf eine engere Zusammenarbeit innerhalb Europas konzentrieren?

Beides. Die Nato ist auch ein wichtiger Pfeiler in Europa. Auch wenn wir bilateral mit unseren Nachbarn kooperieren, erfolgt das im militärischen Bereich häufig basierend auf Standards, die innerhalb der Nato entwickelt wurden. Niemand hat ein Interesse, diese Voraussetzung für die Zusammenarbeit plötzlich infrage zu stellen.

Letzten Herbst gab es im Parlament den Versuch, die Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato zu beschränken. Er ist gescheitert. Hat die Schweiz seither an einer Artikel-5-Übung teilgenommen, bei der die Nato die gemeinsame Verteidigung eines Mitglieds übt?

Ja. Aber da kursiert vielleicht eine falsche Vorstellung. Wir sprechen nicht nur von Truppenübungen. Häufig sind das sogenannte Stabsübungen, bei denen es darum geht, politische und militärstrategische Beurteilungen und Entscheidfindung zu trainieren. Rund 15 Personen aus der Schweiz haben an der Crisis Management Exercise 2025 teilgenommen. Aber sobald es in diesen Übungen um die kollektive Verteidigung geht, sind Partnerstaaten nicht mehr zugelassen. Da gibt es eine rote Linie aufseiten der Nato, aber genauso auf Schweizer Seite.

Die EU entwickelt neu Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaften. Würde in der Schweiz vor allem die Rüstungsindustrie davon profitieren?

Die EU hat neu den sogenannten Safe-Mechanismus, mit dem sie Kredite für gemeinsame Beschaffungen zur Verfügung stellt, um die europäische Rüstungskooperation zu stärken. Wenn die Schweizer Wirtschaft davon profitieren will, müssten wir eine solche Partnerschaft abschliessen. Das könnte den Zugang zu diesem Markt für die Rüstungsindustrie erleichtern, aber auch Forschung und Entwicklung fördern. Aus sicherheitspolitischer Sicht wäre eine solche Partnerschaft sicher sehr interessant. Aber es braucht eine politische Gesamtbeurteilung.

Bald erhält die Schweiz erstmals eine umfassende sicherheitspolitische Strategie. Was ist neu daran?

Wir wollen die sicherheitspolitischen Ziele der Schweiz ins Zentrum stellen. Und aufzeigen, auf welchem Weg und mit welchen Instrumenten man diese Ziele erreichen soll. Die Strategie soll also auch die Umsetzung angehen. Der Bundesrat soll damit den Kompass vorgeben für die Sicherheitspolitik der nächsten Jahre.

Die hybride Konfliktführung ist eine grosse Herausforderung. Man kann nicht sagen, heute ist Frieden und morgen Krieg. Wir müssen bereit und widerstandsfähig sein, weil die Schwelle schleichend überschritten werden kann.

Wohin zeigt dieser Kompass?

Die hybride Konfliktführung ist eine grosse Herausforderung. Man kann nicht sagen, heute ist Frieden und morgen Krieg. Wir müssen bereit und widerstandsfähig sein, weil die Schwelle schleichend überschritten werden kann. Zudem müssen wir unsere internationale Zusammenarbeitsfähigkeit ausbauen. Gleichzeitig haben wir die Bedrohungen der letzten Jahre, die weiterhin aktuell sind: Terrorismus, gewalttätiger Extremismus, schwerwiegende und organisierte Kriminalität. Wir haben den Anspruch, alles abzudecken, auch Naturkatastrophen.

Der Schweizer Botschafter Gabriel Lüchinger ist kürzlich nach Moskau gereist. Wie sind unsere Beziehungen zu Russland aktuell?

Unsere Beziehungen sind seit dem Anfang des russischen Kriegs gegen die Ukraine eigentlich unverändert. Wir haben diese Verletzung des Völkerrechts verurteilt und gleichzeitig unsere Neutralität eingehalten. Die Schweiz möchte die Parteien beim Friedensprozess unterstützen. Alle diplomatischen Kanäle sind offen.

Am Gipfel in Moskau haben sonst keine westlichen Staaten teilgenommen – ist es möglich, neutrale Vermittlerin zu sein und gleichzeitig enger mit westlichen Staaten zusammenzuarbeiten?

Nach meiner Meinung: Ja. Wir sind mit allen im Gespräch und können auch erklären, weshalb wir an dieser Konferenz in Moskau teilgenommen haben.

Die Ukraine hat jüngst einen grossen Überraschungsangriff mit Drohnen auf russische Militärflugplätze gestartet, der als Geheimdienst-Coup angesehen wird. Was heisst es für die Schweiz, wenn Drohnenangriffe immer wichtiger werden?

Bei der Drohnentechnologie – kombiniert mit künstlicher Intelligenz – findet gerade eine Revolution statt. Der ukrainische Angriff zeigte zudem auf, dass es keine klaren Frontlinien mehr gibt. Aktionen können irgendwo in einem Land, auch im rückwärtigen Raum, mit einfachen Mitteln stattfinden. Und das müssen wir bei unseren eigenen Abwehrmassnahmen berücksichtigen.

Die Zusammenarbeit mit dem NDB ist eng und vertrauensvoll, aber auch mit der Gruppe Verteidigung - inklusive MND -, dem EDA, der Bundeskanzlei, dem Bundes­amt für Bevölkerungsschutz oder dem Bun­desamt für Cybersicherheit. Die diversen Stellen, die sich innerhalb des Bundes mit Aspekten der Früherkennung, Antizipation und Krisenvorsorge beschäftigen, sind unter­einander vernetzt, tauschen sich gegenseitig aus und ergänzen sich mit ihrer fachlichen Perspektive, woraus ein Gesamtbild zuhan­den der politischen Führung entstehen soll.

Zum Schluss eine etwas persönlichere Frage: Was macht Ihnen Angst?

Sie meinen jetzt beruflich, oder?

Das überlasse ich Ihnen.

Ich würde es nicht Angst nennen, aber Sorgen macht mir die Gesamtsituation aus sicherheitspolitischer Optik. Die internationale Entwicklung, die darauf hindeutet, dass wir nach einer wirklich sehr guten, stabilen und sicheren Phase in eine neue Epoche hineinkommen, die sehr viel unberechenbarer und unsicherer ist. Grosse Mächte üben wieder mehr Gewalt aus, und dies ist auch noch verknüpft mit den technologischen Entwicklungen bei der Gewaltanwendung. Ich mache mir Sorgen darüber, wo das die Menschheit hinführt.

Wo führt es uns hin?

Ich weiss es nicht. Man darf auch nicht in absoluten Pessimismus oder Alarmismus verfallen. Aber wir müssen die Entwicklung sorgfältig verfolgen und die nötigen Schlüsse ziehen, wie wir sicher bleiben und zu einem stabilen, friedlichen Umfeld beitragen können. Und welche Vorkehrungen wir als Nation treffen müssen für Fälle, in denen das nicht funktioniert – und wir gegenüber Bedrohungen für unsere Sicherheit eine Antwort brauchen.